Aquaponik zur Selbstversorgung in der Kreislaufstadt: Begriffsbestimmungen, Bedarfsdeckung, Umweltauswirkungen, Systemanalysen und Standortpotenziale unter Berücksichtigung des Umlands - Fallstudie Berlin
- Aquaponics for self-sufficiency in the circular city: definitions, demand coverage, environmental impacts, system analyses and site potentials taking the peri urban area into account - case study Berlin
Baganz, Gösta F. M.; Lohrberg, Frank (Thesis advisor); Kloas, Werner (Thesis advisor)
Aachen : RWTH Aachen University (2022, 2023)
Doktorarbeit
Dissertation, Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule Aachen, 2022, Kumulative Dissertation
Kurzfassung
Nahezu das gesamte zukünftige Wachstum der Weltbevölkerung wird in urbanen Gebieten stattfinden, sodass 2050 etwa 68 % der Weltbevölkerung und 88,4 % der Bevölkerung in Ländern mit hohem Einkommen in Städten leben werden (UN, 2019). Gleichzeitig ist die globale Nahrungsmittelproduktion, einschließlich der Vor- und Nachproduktion, für ca. 21 - 37 % der anthropogenen Netto-Treibhausgasemissionen verantwortlich und beschleunigt damit den weltweiten Anstieg der Oberflächentemperatur (IPCC, 2021). Daher müssen unsere derzeitigen Ernährungssysteme nachhaltiger gestaltet und zumindest teilweise in den urbanen Raum eingebettet werden. Die Konzepte der Kreislaufstadt bieten dafür einen geeigneten Rahmen. Eine ressourceneffiziente Technologie, die hierbei eine Rolle spielen kann, ist Aquaponik, die Produktion von Fischen und Pflanzen, welche durch die synergistische Kopplung eines rezirkulierenden Aquakultursystems mit Hydroponik Wasser, Nährstoffe und Energie einspart. Das Ziel dieser Dissertation ist es, in diesem Kontext einen theoretischen Beitrag zur Transformation des Lebensmittelsystems durch die Evaluierung des Potenzials von Aquaponik für Stadtregionen zu leisten und damit zur Förderung einer nachhaltigen urbanen Entwicklung beizutragen, womit ein Erkenntnisgewinn zu den Forschungsfeldern Aquaponik, Kreislaufstadt und Stadt- und Regionalplanung einhergeht. Die Verlagerung der Produktion von Süßwasserfischen, Salat und Tomaten durch Aquaponik in eine Stadt wie Berlin könnte die Umweltauswirkungen erheblich reduzieren. Dabei bedeutet Selbstversorgung nicht unbedingt Nachhaltigkeit. Zum einen ändern sich die physischen, wirtschaftlichen und organisatorischen Parameter mit der Größe einer Anlage und damit auch die Umweltauswirkungen pro Produktionseinheit. Zum anderen sind Energiequellen der Kreislaufwirtschaft einzubeziehen, um die Produktionsverschiebung nachhaltig zu gestalten. Für diese Arbeit wurden bestehende widersprüchliche Definitionen von Aquaponik erörtert und ein überarbeitetes Taxon "Aquaponik" auf der Grundlage einer fundierten und begründeten Definition vorgestellt. Es werden zusätzlich neue Begriffe vorgeschlagen: Trans-Aquaponik und Aquaponik-Farming (als Oberbegriff für Aquaponik und Trans-Aquaponik) sowie Kopplungstyp und Kopplungsgrad. Auch für die Kreislaufwirtschaft und Kreislaufstadt werden Begriffe vorgeschlagen, um diese Forschungsgebiete begrifflich besser fassen zu können, darunter der Oberbegriff Entität für die Knoten des Kreislaufnetzes. Hierbei wurden raumbezogene Identifikatoren präzisiert und Überlegungen zur Systemgrenze der Kreislaufstadt angestellt. Um die Elemente einer Kreislaufwirtschaft-Netztopologie einheitlich darstellen zu können, wurde ein Informationsmodell für naturbasierte Lösungen und verbindende Ressourcenströme entwickelt. Ökologische, sozioökonomische, kulturelle und politische Faktoren, die Aquaponik-Farming in einer Stadtregion bestimmen, wurden aus systemanalytischer Sicht dargestellt. In dieser Arbeit wurde ermittelt, dass die 3,77 Millionen Einwohner in Berlin im Jahr 2020 auf der Nachfrageseite 21 Kilotonnen (kt) Süßwasserfisch und Fischprodukte, 108 kt frische Tomaten (auch für Tomatenprodukte) und 27 kt Salat benötigen. Um diesen Bedarf zu decken, sind auf der Angebotsseite etwa 370 intra-urbane (0,6 ha) oder 16 peri-urbane (14 ha) Aquaponik-Anlagen mit einer Gesamtfläche von jeweils 224 Hektar erforderlich. Es wurde eine ausreichend große Anzahl an Gebäuden identifiziert, die in Bezug auf Größe, Funktion und Geometrie geeignet sind, um intra-urbane Aquaponik-Anlagen unterzubringen. In allen untersuchten Ökobilanz-Wirkungskategorien für Gemüseproduktion (Angebotsseite) in optimierter Dachaquaponik wurde eine Reduzierung negativer Umweltauswirkungen festgestellt. In Bezug auf den Wasserverbrauch würde die Aquaponik-Produktion im Vergleich zum Status quo etwa zwei Millionen m³ Wasser einsparen. Auf der Nachfrageseite wird eine Veränderung der Ernährungsgewohnheiten hin zu einem erhöhten Anteil an Süßwasserfisch diskutiert. Es wurde gezeigt, dass eine Aquaponik-Anwendung in größerem Maßstab den ökologischen Fußabdruck von Städten wie Berlin senken und ihre Resilienz in Bezug auf die Nahrungsmittelsicherheit erhöhen kann. Für eine Produktionsverlagerung nach Berlin wurden signifikante Kausalketten bezüglich des Nexus Lebensmittel - Wasser - Energie identifiziert. Die Belastung des natürlichen Wasserhaushaltes würde in Almería (Spanien) abnehmen, in Berlin jedoch zunehmen. Es gibt in Berlin eine große Nutzungskonkurrenz sowohl am Boden als auch auf den Dächern und damit einen hohen Druck auf die nur begrenzt zur Verfügung stehenden Flächen, der durch die Implementierung von Aquaponik noch ansteigen würde. Die Raumwirksamkeit der Anlagen wird über ihre Baukörper vermittelt: gebäudeintegrierte Anlagen im intra-urbanen und große, frei stehende Hallen im peri-urbanen Raum. Es wurden gewichtige Gründe zusammengestellt, die für Aquaponik in einem städtischen Kontext sprechen, darunter: • Die Nutzung von Energieressourcen der Kreislaufstadt. • Der Null-Nettoflächenverbrauch bei gebäudeintegrierter Aquaponik. • Geringe Auswirkungen auf den Verkehr. Andererseits sprechen Argumente dagegen, wie z. B. geringe Skaleneffekte (Economies of Scale), die zu verringerten Einnahmen führen, und intensiver Nutzungsdruck, der mit höheren Kosten verbunden ist. Nach Abwägung der Vor- und Nachteile erscheint es sinnvoll, weitere Standorte im Umland der Stadt in Betracht zu ziehen. Ziel ist es, peri-urbane Flächen zu nutzen, ohne auf die Vorteile der Aquaponik in intra-urbanen Gebieten zu verzichten. Optionen sind: • Nachhaltige Energieversorgung, die in der kalten Jahreszeit durch dezentrale Lösungen und netzgestützte Langzeit-Energiespeicher erreicht werden könnte. • Nutzung von Industriebrachen oder des vorhandenen Flächenpotenzials in Gewerbe- und Industriegebieten unter Ausschluss wertvoller Böden oder Lebensräume. • Die Einbeziehung von Logistikzentren am Stadtrand kann die intra-urbanen Verkehrsvorteile verringern. Die Ergebnisse dieser Studie zeigen, dass sich Berlin hinsichtlich aquaponischer Produkte selbst versorgen kann. Unter Berücksichtigung realistischer Randbedingungen wurde ein Szenario entwickelt, das nicht nur intra-, sondern auch peri-urbane Standorte vorsieht. Die Konzepte der produktiven Stadt können für die Implementierung urbaner Aquaponik Chancen bieten. Die Empfehlungen an die Politik lauten: • Im Rahmen der städtischen Landwirtschaft sollten Aquaponik und Trans-Aquaponik ein Thema der Berliner Strategien und Planungen sein, mit dem Ziel, die Ressourcen der Kreislaufwirtschaft in der Stadt zu nutzen und die Lebensmittelproduktion für die Bürger sichtbar zu machen. • In der Stadtregion sollte nur Aquaponik mit Integration nachhaltiger Energiequellen gefördert werden. • Der intra-urbane Raum wird priorisiert. • Es sollten Industriebrachen gegenüber ungenutzten Gewerbe-/Industriegebieten im Umland bevorzugt werden. • Bei der Produktion von tierischem Eiweiß sollte Süßwasserfisch gegenüber Fleisch bevorzugt werden. Dies sollte bei Subventionen berücksichtigt und in öffentlichen Ernährungskampagnen propagiert werden. • Die Vereinfachung der komplexen rechtlichen Rahmenbedingungen ist erforderlich. Diese politischen Empfehlungen sollten sich in der geplanten Berliner Nachhaltigkeitsstrategie 2030 widerspiegeln. Das in dieser Arbeit entwickelte Methodenspektrum lässt sich unter Berücksichtigung der konkreten Rahmenbedingungen auch auf andere urbane Regionen anwenden.
Einrichtungen
- Lehrstuhl für Landschaftsarchitektur [214110]
Identifikationsnummern
- DOI: 10.18154/RWTH-2022-10459
- RWTH PUBLICATIONS: RWTH-2022-10459
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